Die Fahrt war schrecklich. Zu unserer größten Freude aber trafen wir Vater bei leichter Besserung an. Der vorhergehende Tag (Freitag) war schlecht gewesen. Auf seinen eigenen Wunsch hatte
Vater aus Pater Felix Hand die Hl. Wegzehrung erhalten und seine Kommunion für Hermann Dieckmanns Rückkehr zum Glauben aufgeopfert. Wir durften Vater am Samstag noch nicht sehen.
„Ist Carl immer noch so gut zu Dir?“ Darauf antwortete ich: „Ja, Vater, er könnte gar nicht besser sein“, worauf er sagte: „ Das ist ein großes Glück für Dich“. Oft empfahl er Mutter und
mir die Jüngeren an, indem er sprach: „Sorgt für die Kleinen!“ oder „Wo ist Franz? Ist er auch immer unter Aufsicht? Daß er nur nicht in schlechte Umgebung kommt!“ Wir haben ihn immer
beruhigt und gesagt, daß wir für alles sorgen wollten.
Oft war er noch ganz witzig und brachte uns und die Schwester zum Lachen. Wenn er seine Knie hochgezogen hatte, so meinte er, in den Falten der darüber liegenden Steppdecke ein grinsendes
Judengesicht zu sehen. Als überzeugter Antisemit packte er in heiligem Zorn die Fratze mit den noch immer kräftigen Händen. „Du hast immer die richtige „Kältemischung“ meinte er, meine
Hand haltend einmal. Am Gründonnerstag Mittag betete er laut und deutlich:
„Liebster süßester Heiland, wenn Du weißt, daß mein Leben unnütz ist und daß ich nicht mehr auf Erden wandeln soll, so nimm mich doch bald zu Dir.“
Ein ander Mal, als er auch große Schmerzen hatte: “Gib mir etwas gegen die Schmerzen, damit es eher zu Ende geht; aber das darf ich als Katholik ja gar nicht sagen.“
Seinem Bett gegenüber hing das große schöne Kruzifix. Es war sein Trost und Halt. Noch sehe ich seine Augen mit rührender Hingebung und dann wieder wie beschwörend daran hängen. Einmal
zeigte er darauf mit den Worten: „Das müsst ihr immer in Ehren halten.“
Je näher der Karfreitag kam, desto öfter fragte er danach. Ich glaube er dachte, es wäre sein Todestag. Beinah ist es ja auch so gewesen. Jedenfalls ist es der Tag seines Todes leider
gewesen. Ich habe ihm den Karfreitag verschwiegen und gesagt, es sei schon Karsamstag, was er auch glaubte. Auch die Mittagsstunden gegen 3 Uhr, als unser Herr am Kreuze starb, wollte er
immer genau wissen. Manchmal, besonders nach beruhigenden Einspritzungen träumte er und sprach ruhig vor sich hin. So sagte er, wohl in Erinnerung an die Fritzlarer Reise im vorigen
August: „das schöne alte Fritzlar! Hat so viele gute und schlechte Tage gesehen“. Mitten in der Nacht setzte er sich einmal aufrecht und sprach im Befehlston: „Nie eine Krankheit
verschleppen! Immer gleich zum Arzt gehen“. Dann grüßte er einmal militärisch und winkte freundlich den Gegengruß ab. Das schreckliche harte Röcheln, das immer mehr zunahm, störte ihn
sehr und machte ihn aufgeregt. Als es ihm zu arg wurde rief er, auf seinen Hals zeigend, im militärischen Ton: „Jetzt Ruhe!“ – Aber es hörte und hörte nicht auf. „Was für ein Wort muß ich
nur immer sagen?“ fragte er mich dann. Das Wort hieß wohl „Leiden, Leiden, Leiden“. – „Jetzt kann ich sehen, was dieser arme Umbach gelitten hat,“ meinte er. Umbach war ein Patient von
Vater, der auch Grippe hatte. Er ist aber wieder durch gekommen.
So kam der Karfreitag heran. Geweint habe ich nicht mehr in den letzten Tagen. Es war mir nach einem Blick auf das Kreuz sogar oft möglich, Vater an zu lachen. Er fühlte den Tod kommen.
Am Morgen mussten wir ihn schön machen und kämmen. Er half selbst dabei, trocknete sich ab, kämmte seinen Bart und ordnete alles an. Dann mußten wir ihm ein reines Hemd anziehen. Vater
war nicht nur im Leben sondern auch noch in den letzten Stunden von peinlichster Sauberkeit und Ordnung. Mit Pater Felix, den ich geholt hatte, hat er dann noch morgens gebetet. Die
Herzschwäche wurde immer größer. Man gab ihm Linderungsmittel, die ihm die schweren Nachmittagsstunden erträglich machten. Beim Einnehmen sagte er lächelnd zur Schwester, indem er auf
mich zeigte: „Das gönnt sie mir nicht. Das Kind hat immer so gern Medizin genommen.“ Dann bestimmte er noch allerlei kleinere Angelegenheiten für den Fall seines Todes, z. Bsp. sollte Dr.
Beckmann sein letztes Benzol haben u. ähnliches. Als er sich wohler fühlte, machte er auch wieder Zukunftspläne und Scherze. Er sah links und rechts vom Kreuz vier Fratzen, die sich
bewegten, und als ich auf sein Befragen sagte, daß ich sie auch sähe, meinte er lächelnd zu den anderen: „Komisch daß Berti sie auch sieht“, und zu mir darauf: Weißt du Berti, es ist aber
doch nur Täuschung. Es kommt von der Tapete.“
Dann sah er ein Stachelschwein. Es ängstigte ihn, und ich riet ihm die Augen zu schließen. Er tat es, aber es war noch da, als er sie wieder öffnete. Da bin ich hingegangen und habe
gesagt, ich wollte es totmachen. Ich brauchte nur einige Male die Gardine zu bewegen, da war er zufrieden.
Sein Blick war fast immer auf das Kreuz gerichtet: „Der Heiland blutet immer mehr, seht ihr das nicht?“ sprach er Freitagnachmittag zur Schwester und mir.
Er nahm noch allerlei zu sich und führte selbst den Löffel zu Munde. Unseretwegen hat er sich immer noch zur Nahrungsaufnahme gezwungen, wenn es ihm auch fast unmöglich war. Am
Spätnachmittag kam kalter Schweiß, die Hände wurden ganz kalt und naß. „Das ist der Todesschweiß. Ich kenne das“, sagte er mir. Mutter und ich wischten ihm mit einem weichen Tuch immer
wieder die Tropfen von Gesicht und Händen. Er fühlte die Kälte kommen und bat, den Ofen anzuzünden. Ich sehe noch Mutter in Jammer und Elend vor dem alten runden Ofen knien und mit Torf
ein helles Feuer anzünden. Der Tod, der schon so nahe war, ging noch einmal vorüber. Langsam wurden Vaters Hände wieder wärmer und es war, als wenn seine alte Kraft noch einmal sich
zeigen wollte. Er wollte nicht mehr im Bett bleiben. Wir mußten seinen Anzug holen und ihn anziehen. Er setzte sich auf den Bettrand gestützt auf uns, ganz erschöpft von der Anstrengung.
Als er wieder ins Bett gehoben wurde, nach dem wir ihm den Anzug wieder ausgezogen hatten, mußte ich an die Grablegung Christi denken. Zweimal mußten wir ihn noch aus dem Bett
heraushelfen und sogar einen Sessel holen, auf den wir ihn setzten. Das letzte Mal war es schon tief in der Nacht. Ich hatte Mutter und die anderen, die sich etwas gelegt hatten,
herangeholt. Auch die beiden Dienstboten waren jetzt im Zimmer. Ob Vater Pia noch erkannt hat, weiß ich nicht. Er sah oft aufmerksam nach der Richtung, wo sie stand. August hielt seine
Füße. Wir alle suchten ihm zu helfen, ihn zu stützen und zu wärmen. Dann wurde er schwächer, und die Augen begannen zu brechen. Mutter sagte: „Jetzt geht es dir immer besser, Vater!“ –
„Immer besser“, wiederholte Vater. Das letzte, was er deutlich sprach, fast rief, war „Franz!“ Da kam Franz an seine Seite und hielt seine Rechte lange fest und links war Mutter. Die
Schwester begann mit den Sterbegebeten, und die Sterbekerze wurde angezündet. Vater hielt den Rosenkranz umklammert, den ihm Pater Omnipotenz nach der schweren Krankheit geschenkt hatte
und an dem er im letzten Jahr jeden Abend ein Gesetz gebetet hatte.
Das Röcheln wurde stärker. Dann kam es nur noch stoßweise. Schließlich war der letzte Atemzug getan.
Berti Bunsmann ist geprägt von einem konservativ-katholischen Elternhaus mit religiös motiviertem Antisemitismus. Dies wird in einigen Passagen des ungekürzten Gesamtdokumentes erkennbar.
Quellen
Text und Abbildungen: Dr. Jutta Schlia-Zimmermann
Redaktion: Henning Stoffers