Erinnerungen an meine Kindheit - Teil 2

Die Sandgrube in Berg Fidel

Der Autor Erwin Schröder
Der Autor Erwin Schröder

Die sonntäglichen Verwandtenbesuche waren für uns Kinder mehr als lästig und eine Garantie für einen langweiligen Nachmittag. Bei Onkel Leopold war es etwas anders, dort gab es immerhin die „Sandgrube“. Onkel Leopold wohnte in Berg Fidel. Wir fuhren mit unserem alten Käfer mit Brezelfenster die Hammerstraße aus der Stadt raus und bogen rechts in die Alte Reitbahn ab. Rechterhand säumte eine Häuserreihe den Weg, links war weiter Acker, wo sich heute die Trauttmansdorffstraße breit macht. Zunächst gab es bei Onkel Leopold Kaffee und Kuchen, Biskuitboden mit Pfirsichhälften aus der Dose belegt. Vom Wohnzimmerschrank schauten drei Puppen herunter, die man auf dem Send „geschossen“ hatte.

Für uns Kinder ging es danach zur „Sandgrube“, eine etwa 200 x 150 m große Grube, die irgendwann mal zur Sandgewinnung ausgebaggert worden war und im Bereich der heutigen Trauttmansdorffstraße, Ter-Borch-Straße und Pictoriusstaße lag. Ein nicht geringer Teil hatte sich mit Wasser gefüllt, an der Südseite hatten Anwohner der Alten Reitbahn ihren Müll über Jahre den Abhang hinunter geschüttet, in der Ecke im Nordosten gab es Haufen aus einer seltsamen grauen Masse, wahrscheinlich Klärschlämme, die heute als Sondermüll zu entsorgen wären. Aber ansonsten war die Sandgrube ein wunderbares Gelände zum Herumstreunern. Im Sand entdeckten wir ein Mauerstück mit einer aufwändigen Stuckverzierung, was bei uns sofort eine Burg vermuten ließ, die hier mal gestanden haben muss.

Etwas weiter Richtung Sternbusch befand sich links hinter der Fußgängerbrücke direkt an der Bahnlinie eine Wiese mit einem kleinen runden Tümpel, möglicherweise ein alter Bombentrichter, in dem sich Wasser gesammelt hatte. Dieser Tümpel war ein Geheimtipp für Molchsammler. An manchen Tagen standen mehrere Kinder am Ufer, ausgestattet mit selbstgebastelten Keschern, den Blick auf die Wasseroberfläche gerichtet, um den kurzen Moment zu erwischen, an dem so ein Molch zum Luftholen nach oben kommt. Unser Kescher bestand aus einem langen Bambusrohr mit einem Drahtring und Mutters Nylonstrumpf als Netz. In der Regel fing man Bergmolche (die mit dem orangefarbigen Bauch), aber auch der seltenere Kammmolch ging uns einmal ins Netz. Zuhause wanderten die Tiere dann für einige Wochen in unser Aquarium.

 

Ende der 60-er Jahre mussten wir entsetzt mit ansehen, dass Baumaschinen anrückten, und als erstes das Wasser in „unserer Sandgrube“ abgelassen wurde. In der nordwestlichen Ecke hatte man die Wasserfläche zur neuen Kanalisation hin freigegraben. In dem großen Kanalrohr verschwanden nicht nur die Wassermassen, sondern auch jede Menge Stichlinge, Frösche und sonstige Wasserbewohner. Bei unserer Tierrettungsaktion fischten wir die Stichlinge vor dem Kanalrohr ab und brachten sie eimerweise zum Molchtümpel. Ich denke, wir haben damals die Fischpopulation in dem kleinen Tümpel auf ein nicht mehr lebensfähiges Maß vergrößert. Einige Zeit darauf war dieser Tümpel dann auch verschwunden.

Raketenversuch am Berg Fidel

Bevor die Region dann vollends zugebaut wurde, konnten wir das Brachland aber noch als Testgebiet für unsere Raketenversuche nutzen. Es gab ein Rezept für Treibstoff, ich meine sogar, wir hatten es im Fernsehen gesehen, bestehend aus einer Mischung E 605 und Zucker. Ich möchte an dieser Stelle aber niemand zu unvorsichtigen Experimenten verleiten, ich weiß auch nicht mehr, was wir unserer Mutter für eine Geschichte auftischten, wenn wir uns auf die Räder setzten und mit unseren Raketen nach Berg Fidel abrückten. Mein älterer Bruder hatte es geschafft, in der Drogerie an das Teufelszeug ran zu kommen. Die Raketenhülle bestand aus mit Glaslack bestrichenem Zeitungspapier, das zu einem Rohr gerollt wurde. Die Spitze war allerdings die größte Herausforderung. Bei einigen Fehlstarts wurde sie einfach abgesprengt. Nun waren wir uns durchaus einer gewissen Gefahr bewusst. Die Zündschnur war lang genug, beim Take-off lagen wir in ausreichender Entfernung hinter einem Erdhügel, und bei erloschener Zündschnur warteten wir eine halbe Ewigkeit, bis wir uns dem Blindgänger näherten. Der Erfolg unserer pyrotechnischen Versuche war jedenfalls mäßig. Von vielleicht zehn Raketen schafften es zwei, einige Meter in die Höhe zu schießen, um dann in einem scharfen Bogen zur Erde zurück zu kehren.

Unsere ,Kutschenschlucht' an der Siemensstraße

Aber noch einen anderen spannenden Ort entdeckten wir in der Nähe. Auf der gegenüberliegenden Seite der Hammer Straße, hinter der Bahnlinie an der Siemensstraße, lag und liegt noch heute ein Sportplatz, der damals schon mal beim Schulsport benutzt wurde. Unmittelbar hinter dem Platz verlief in südlicher Richtung entlang der Bahnlinie eine verwilderte etwa 400 Meter lange Schlucht. Wir nannten sie die „Kutschenschlucht“, denn sie hätte sich ideal für einen Überfall auf eine durchfahrende Postkutsche geeignet. Ein Baumstamm quer über den Weg gelegt, das ganze Areal viel zu eng, um eine vierspännige Kutsche zu wenden, und die Angreifer hätten freies Schussfeld von den Hängen zu beiden Seiten gehabt.

 

Als ich mit meinem Freund Jörg einmal die Schlucht in südlicher Richtung verließ, bot sich uns ein atemberaubender Anblick. Ein weites verwildertes Terrain mit teilweise zerstörten Gleisanlagen und demontierten Brücken. Was war hier geschehen? Beim Stromern durch das Gebiet stellten wir uns die wildesten Geschichten vor. Heute weiß ich, dass wir auf die Überreste der Güterumgehungsbahn gestoßen waren. 1930 in Betrieb genommen sollte der Durchgangsgüterverkehr die Stadt östlich umfahren. Zunächst eingleisig, später zweigleisig, wurde 1960 das zweite Gleis wieder entfernt. Außerdem gab es in einer scharfen Kurve eine Anbindung der Umgehungsbahn an den Güterbahnhof. Und genau diese Anbindung führte damals durch unsere „Kutschenschlucht“ und war ebenfalls demontiert worden. Heute befindet sich dort das Gewerbegebiet an der Trauttmansdorffstraße.

Stadtplan 1963
Stadtplan 1963

Acht Schulgebäude in dreizehn Jahren

Matthias-Claudius-Schule mit der Baracke der Karl-Wagenfeld-Schule
Matthias-Claudius-Schule mit der Baracke der Karl-Wagenfeld-Schule

Nun ein paar Worte zu den Schulen meiner Kindheit. Meine älteren Brüder begannen ihre Volksschulzeit in der Josefschule in der Hermannstraße, und anschließend in der Hermannschule im Dahlweg. Drei Jahre später, 1962 kam der Umzug in die neue Wittenbergschule in der Scheibenstraße, und damit auch meine Einschulung. Schon vorher hatten wir den Bauplatz besichtigt in Vorfreude auf das nagelneue Gebäude. Da die Scheibenstraße noch nicht fertig war, erinnere ich mich an dieser Stelle an einen schmalen Weg durch Schrebergärten. Meine LehrerInnen waren: Frau Cocolovius (Schreibweise ungewiss), Frau Strunk (sehr nett, Typ: Die junge Königin Elisabeth), Frau Giersberg und Herr Kassner (auch sehr nett, Typ: Blacky Fuchsberger). Bei Frau Giersberg waren wir als 3. Klasse mit der 4. zusammengelegt, Unterricht wie in einer Dorfschule. Die Klassen waren koedukativ gemischt.

Das wurde anders, als ich auf die Realschule wechselte, hier waren Jung- und Mädchenklassen getrennt. Zunächst war die Realschule noch namenlos und war in den Räumen der Matthias-Claudius-Schule untergebracht. Wegen der Raumnot hatten wir anfangs Schichtunterricht, im wöchentlichen Wechsel vormittags oder nachmittags. Später wurde auf dem Schulgelände eine längliche Baracke mit ca. 6 Klassenräumen aufgestellt. Die Fensterseite grenzte an die Gärten der Oberschlesier Straße, wo die Hühnerställe für kräftige Landluft sorgten. Da man sich noch in der Namensfindung für die Schule befand, wurde als Übergangslösung der Name „Feldhausschule“ gewählt. Der später ausgerufene Name „Karl-Wagenfeld-Schule“ hat dann bis 2015 gehalten, als man sich der geistigen Nähe Wagenfelds zu den Nazis bewusst wurde. Heute ist es die Erna-de-Vries-Schule.

 

Angrenzend an das Schulgelände wurde Mitte der 60-er Jahre das Hallenbad Süd Am Inselbogen gebaut. Schwimmen gelernt hatte aber ich schon einige Jahre zuvor. Unsere Mutter war mit mir über den noch sandigen Kolde-Ring zur Pädagigischen Hochschule gelaufen, wo ich im Lehrschwimmbecken die ersten Schwimmzüge absolviert hatte. Beim Schulschwimmen im Südbad gab ich mich sicherheitshalber zunächst als Nichtschwimmer aus. Das bescherte mir noch etliche Wochen Badespaß im geheizten Lehrschwimmbecken. Nach dem Barackenleben in der Feldhausschule kam der Umzug in die ehemalige Wittenberg-Schule an der Scheibenstraße. Ich war also wieder in den alten Räumlichkeiten, jetzt aber als Realschüler.

Im ersten Stock links in der Ecke, das war unser Klassenzimmer im Aaseemarkt
Im ersten Stock links in der Ecke, das war unser Klassenzimmer im Aaseemarkt

Um 1970 kam der nächste Umzug, diesmal in den Neubau an der Spichernstraße. In einer Physikstunde drückte unser Lehrer Herr Pacholek jedem von uns irgendeinen empfindlichen Glaskolben in die Hand, und die ganze Klasse marschierte zur Spichernstraße. Das erschien ihm sicherer, als die Geräte aufwändig verpackt in Kisten rüber zu bringen. Als Klassenlehrerin hatten wir die ersten drei Jahre Frau Hellrung (streng und gefürchtet), die letzten drei Jahre Herrn Pacholek (gelegentlich etwas polternd).

 

Danach verbrachte ich noch drei Schuljahre in der Aufbaustufe des Hittorf-Gymnasiums. Da auch hier Raummangel herrschte, wurden wir mit einigen anderen Klassen in Räumlichkeiten des Aasee-Marktes untergebracht, bis ein Anbau an der Turmstraße für mehr Platz sorgte. Das Leben im Aasee-Markt war allerdings eine feine Sache fernab von Aufsicht und Kontrolle. Insgesamt also sieben Umzüge in meinem Schulleben, das wirft ein bezeichnendes Licht auf die Raumnot der Schulen in den 60-er und 70-er Jahren.

Zivildienst im Hüfferstift

Ein paar Worte möchte ich noch über meine späteren Jugendjahre in Münster verlieren. Den Zivildienst, damals noch in einer mündlichen Verhandlung erstritten, machte ich im Hüfferstift. Das war die orthopädische Uniklinik in der Hüfferstraße, heute ist dort ein Teil der Fachhochschule untergebracht. Prof. Dr. Matthias war damals die unumstrittene Koryphäe. Wir hatten mal einen Jungen aus Athen auf der Kinderstation, der gute Ruf der Klinik reichte bis nach Griechenland. Für mich damals nicht unwichtig – die Schwesternwohnheime in der Domagkstraße. Eines Abends, es mag schon spät gewesen sein, klingelte ich bei Schwester Gabi, einmal, zweimal, dreimal. Anstelle von Schwester Gabi erschien Schwester Rabiata oben am Fenster und schüttete mir einen verbalen Wassereimer auf den Kopf, was mir einfiele, so spät zu klingeln, das würde man auf dem ganzen Flur hören. Dieser Bereich vom Domagkweg musste später dem Ring weichen.

Hüfferstift um 1960 - Foto: Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)
Hüfferstift um 1960 - Foto: Sammlung Stoffers (Münsterländische Bank Thie - Stadtarchiv)

Das alte Klinikgelände hatte noch einen gewissen „Stallgeruch“. Auf der grünen Wiese vor den Toren der Stadt erbaut, 1925 offiziell eröffnet, waren die Einrichtungen in den 70-er Jahren nicht mehr zeitgemäß, so dass die neue Klinik mit den Bettentürmen gebaut wurde. Mein Werdegang in der Orthopädie umfasste Anästhesiehelfer, Spastikerkindergarten und Archiv. Spannend waren die alten Akten aus der Nachkriegszeit, die im Keller von Schnellmann gelagert waren, Café Schnellmann, allgemeiner Imbisstreffpunkt am Jungeblodtplatz, heute Eiscafé San Remo. In staubigen Regalen schlummerten dort Berichte über Granatsplitter, die operativ entfernt werden mussten und über Amputationen nach Bombenangriffen.

Studienjahre an der FH für Design

Nach dem Zvildienst studierte ich 1976 bis 1980 Design an der FH, damals am Sentmariger Weg untergebracht, direkt im scharfen Knick, wo heute die IHK untergebracht ist. Noch wenige Jahre zuvor war die GAD direkt nebenan in einem barackenähnlichen Gebäude angesiedelt, GAD – Gesellschaft für automatische Datenverarbeitung, heute ein großer IT-Dienstleister, hatte dort seine bescheidenen Anfänge. Ich mag 15 oder 16 gewesen sein, als ich mit meinem Rad auf der Hammer Straße von einer eleganten Dame im Business-Kostüm angehalten wurde. Sie fragte nach dem Weg zur GAD und schien es sehr eilig zu haben. Da habe ich ihr kurzentschlossen angeboten, sie auf meiner Fahrradstange mitzunehmen. Es muss ein köstliches Bild gewesen sein, ich pubertierender Schnösel mit der Geschäftsfrau auf dem Rad, für mich auf jeden Fall eine angenehme Erfahrung. Vielleicht hat sie dadurch ihr lebenswichtiges Vorstellungsgespräch rechtzeitig erreicht.

 

Und dann das süße Studentenleben. Es gab dafür drei Locations (um es neudeutsch auszudrücken): das Kuhviertel, die Mensafeten am Aasee und die Lila Eule, auch kurz Eule genannt. Den Hafen, wie wir ihn heute kennen, gab es damals noch nicht. Hafen - das hieß wirklich Hafen. Ich hatte mal eine Freundin, die wohnte in einer WG am Hafenweg, das wäre spätabends im Dunkeln schon ein Set für einen Edgar Wallace gewesen. Also war es das Kuhviertel, wo man durch die Kneipen ziehen konnte. Cavete, Blaues Haus, Pinkus Müller, Destille, und in der Walnuss lernte ich dann meine Frau kennen, mit der ich heute noch verheiratet bin. Wenn sich das Kuhviertel gegen Mitternacht immer mehr leerte, konnte man in der Eule weitermachen. Die Eule war ein Kellerschuppen in der Königsstraße, Disco wäre das falsche Wort, heute würde man Club sagen. Oft bin ich dort aber nicht gewesen, zu laut, zu eng, zu verraucht.

 

Eng konnte es auch in der Mensa werden, wenn da alle paar Wochen Fete angesagt war. Zur Tanzfläche musste man sich dichtgedrängt vorwärts schieben. Aber man traf immer bekannte Gesichter, und in der Eingangshalle konnte man mal Luft schnappen. Und Bekannte treffen, das hatte damals einen besonderen Stellenwert. Wie sah es denn aus, wenn ich Hanne mal besuchen wollte? Man radelte quer durch die ganze Stadt, stand vor verschlossener Tür, steckte einen Zettel am Türrahmen fest und radelte die ganze Strecke wieder zurück. Am nächsten Tag das Ganze nochmal in der Hoffnung, dass Hanne den Zettel gelesen hatte und auf mich warten würde. Ein Hoch auf die Erfindung des Telefons, das sich heute jeder Hans und Franz leisten kann.

 

Noch ein Wort zur Mensa, die man mit dem heutigen gastronomischen Standard nicht vergleichen kann. Es gab ein Gericht zu 1,20 DM und eines zu 2,40 DM. Laut Aushang war der Verkauf der Essensmarken nur an Studierende erlaubt, ja man sollte unaufgefordert seinen Studentenausweis vorlegen. Glücklicherweise sah die Praxis anders aus, so dass ich bereits in der Zeit vor meinem Studium dort einkehren konnte. Die Schlangen vor der Essensausgabe waren lang, und vor Ort förderte dann ein Fließband die befüllten Tablets aus dem Kellergeschoss an die Oberfläche. Dann ratterte es an einem vorbei, und man musste geschwind zugreifen und gleichzeitig seine Marke abgeben. Ich höre noch heute das gleichmäßige Klappern und Rattern des Fließbandes.

Südpark, ehemals Trainkaserne

1981 habe ich Münster verlassen und bin berufsbedingt erst für zehn Jahre nach Meinerzhagen und dann nach Burgsteinfurt gezogen. Natürlich war ich seitdem oft in Münster, aber die Besuche beschränkten sich im Wesentlichen auf Prinzipalmarkt, Aasee und Schlossgarten. Die Orte meiner Kindheit hatte ich vielfach seit 40 Jahren nicht mehr gesehen. Als jetzt beim Schreiben die ganze Erinnerung wieder hochgewühlt wurde, musste ich natürlich hin und nachschauen. Mit dem Fahrrad einmal kreuz und quer durch mein altes Viertel.

Angefangen habe ich am Eingang zum Südpark an der Josefs-Kirche. Bemerkenswert ist das alte Gemäuer am Abenteuerspielplatz. Die wenigsten werden wissen, dass es sich hier um das letzte verbliebene Gebäude der alten Train-Kaserne aus der Kaiserzeit handelt. Weiter durch den Park auf der linken Seite entdecke ich einen alten Einmannbunker, auch Splitterschutzzelle genannt. Gebaut wurden diese Dinger in den 30-er und 40-er Jahren. Am hinteren Ende des Südparks, dort wo man auf die Augustastraße stößt, hatte einmal Hennings Haus gestanden. Ich erinnere mich an einen Zeitungsbericht über einen, ich glaube kanadischen Künstler, oder war es ein Japaner gewesen? Der hatte, kurz bevor das Haus abgerissen wurde, kleine Tonfiguren in den Vorgarten gestellt. War das Kunst gewesen, oder konnte das weg? Immerhin hatte er es in die Zeitung gebracht.

Stadtplan 1903
Stadtplan 1903

Unser Spielplatz in der Südstraße

Schließlich stehe ich vor unserem alten Spielplatz an der Südstraße. Der Südpark war ja bis Anfang der 70er Jahre noch verwildertes Terrain, von der hohen Mauer und dem Eisenzaun aus Kaiserzeit umgeben. Schlupfwinkel, durch die Henning noch auf das Gelände kam, gab es zu meiner Zeit nicht mehr. Man hatte alles dicht gemacht, wahrscheinlich hatte Henning zu viel Unfug getrieben. Nun ja, gegenüber war der Eingang zu unserem „Hinterhofspielplatz“. Heute ist dort ein Stadtbiotop eingerichtet. Mir wird schon warm ums Herz, als ich den kurzen Weg ins Zentrum dieses Häuserblocks beschreite. Der Spielplatz hatte damals einen großen kreisrunden Sandkasten, in den eine Rutsche führte. Und diese Rutsche hatte ihren Anfang weiter oben auf einem alten Bunker, der etwa 1,50 Meter aus der Erde ragte. Und ebenfalls von der Deckenplatte des Bunkers führte eine Rollschuhbahn in einem weiten Bogen um den Sandkasten herum, im Winter ebenso als Rodelbahn zu gebrauchen. Heute ist alles der Natur überlassen, der NABU hat dort kürzlich über 100 Pflanzenarten gezählt. Für mich zählt hier mal nicht die Artenvielfalt, für mich zählen die vielen Erinnerungen, die nur ich in diesem Urwald sehen kann. Die Deckenplatte des Bunkers ist noch gut sichtbar vorhanden, die Seiten sind aber aufgeschüttet und überwuchert.

Ich (vorne) mit meinen Brüdern auf der Rutsche am Spielplatz Südstraße
Ich (vorne) mit meinen Brüdern auf der Rutsche am Spielplatz Südstraße

Als ich dann anschließend die Augustastraße entlang gehe, sehe ich in den Hausfassaden die Entwicklungsgeschichte der Straße. Ein paar einzelne Häuser aus der Gründerzeit und eines im dunklen Backsteinstil der 30-er Jahre, Häuser, die den grausamen Krieg überlebt hatten. Neben ein paar modernen Häusern dann ganz viel Zweckbauten aus der Nachkriegszeit, als man sich keine Schnörkel erlauben konnte, als man nur ganz schnell ganz viel Wohnraum brauchte.

Geschäfte in der Umgebung

Als nächstes mache ich mich auf die Suche nach einigen Geschäften in der Umgebung. Da gab es einen Schuster auf der Friedrich-Ebert-Straße weiter oben Richtung Bahnhof, etwa auf der Höhe vom Eisenwarengeschäft Hülskamp, das ja auch nicht mehr existiert. Man ging ein paar Stufen hoch, ein klitzekleiner Laden, wo einem der Geruch von Leder und Leim entgegenschlug, ein alter Kanonenofen in der Ecke und ein freundlicher, alter Mann an der ratternden Ledernähmaschine. Aber wahrscheinlich war er gar nicht alt, nur in meiner Erinnerung sind fast alle Erwachsenen alt. Er zog seinen dicken Bleistift hervor und kritzelte mit schnellen Strichen auf den Sohlen herum, was zu tun war. Das Geschäft kann ich nicht mehr finden, die Hausfassaden haben sich alle geändert und mit ihnen die Hauseingänge.

Nichts erinnert daran, dass in dieser Butze mal ein Friseur seinen Laden hatte
Nichts erinnert daran, dass in dieser Butze mal ein Friseur seinen Laden hatte

Weiter geht es in die Augustastraße Hausnummer 26. Dort kann ich wenigstens noch den Eingang erahnen, damals meine Quelle für Schulhefte, Stifte usw. Es war ein schmaler Raum und nannte sich Leihbücherei. An der linken Wand gingen die Bücherregale bis unter die Decke, gefüllt mit Western, Liebesromanen und sonstiger Trivialliteratur. Die Ausleihe kostete einen Groschen pro Buch, oder waren es zwei? Auf der rechten Seite war der Verkaufstresen, dahinter die Regale mit dem Schulbedarf. Und weiter geht meine Safari in den Dahlweg. Da gab es in den 50-er Jahren einen Frisör, zu dem wir Kinder schon mal geschickt wurden; aber wahrscheinlich höchstens zum Monatsanfang, wenn Geld für so einen kleinen Luxus übrig war. Einmal Schneiden kostete 50 Pfennig. Ansonsten bekamen wir den Schnitt von unserer Mutter. Damals war der Hinterkopf kurz geschnitten, bez. kurz rasiert. Und dafür gab es Handhaarschneidemaschinen, die immer furchtbar geziept haben. Den Friseurladen kann ich noch erahnen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es der garagenähnliche Bau zwischen den Hausnummern 38 und 40 war. Und ein Stück weiter auf dem Dahlweg, ich vermute Hausnummer 27, war unsere Dogerie Witt. Auch ein kleiner bis unter die Decke vollgestellter Laden, so wie man ihn heute nicht mehr sieht. Der Drogist hatte uns Kinder mal angesprochen, ob wir nächste Woche kommen wollten, der Cascademann wäre da und würde Geschenke verteilen. Aber für so eine Werbeveranstaltung waren wir da wohl schon zu alt. Wer erinnert sich noch? Cascade – zwingt Grau raus, weiß rein.

 

Dann möchte ich noch zwei Geschäfte auf der Hammer Straße erwähnen. Bünker & Löher, ein größeres Buch- und Schreibwarengeschäft. Hier habe ich die heißbegehrten Bastelbogen bekommen, große DIN A1-Bogen für recht anspruchsvolle Modelle: Schiffe, Flugzeuge, Gebäude usw. Weiter Richtung Ludgeriplatz gab es Zoo-Ziegler. Dort haben wir alle unsere Zierfische und Goldhamster gekauft. Unsere Versuche, mit Fischzucht Geld zu verdienen sind dann aber kläglich gescheitert. Zoo Ziegler hatte kein Interesse an unseren Jungguppys. Wohin also damit? Aussetzen im Aasee? Guppys sind reine Warmwasserfische. Abspülen im Klo? Diesen Tipp eines „Freundes“ haben wir natürlich entrüstet von uns gewiesen. Also blieb uns nur der Botanische Garten. In einer konspirativen Aktion haben wir die Fische in eines der großen Wasserbecken in den Gewächshäusern ausgesetzt. Heute möchte ich dazu sagen: Bitte nicht nachmachen!

 

Zu guter Letzt sei noch Focke erwähnt. Das Modellbaugeschäft in der Beelertstiege, dieser kleinen Seitengasse zur Ludgeristraße. Was haben wir uns da die Nasen am Schaufenster plattgedrückt, bis wir uns später als Jugendliche ein größeres, ferngesteuertes Segelboot leisten konnten. Vorher hatten wir ein kleines Segelboot ohne Fernsteuerung, das wir im Wasserbecken vor dem Stadthaus am Ludgeriplatz zu Wasser lassen konnten. Beim Versuch, das Boot auf geradem Kurs durchs Becken zu schicken, haben wir immerhin die ersten Grundlagen der Segelkunde gelernt. Wasser ist schon lange nicht mehr in diesem Becken, heute ist es begrünt.

Weitere Stationen meiner Kindheit

Zwei V60 Rangierloks auf dem Ablaufberg...
Zwei V60 Rangierloks auf dem Ablaufberg...

Weiter geht es zum Alfred-Krupp-Weg, damals bei uns auch „Schwarzer Weg“ genannt. Und ich finde tatsächlich in der Betonmauer, die das Bahngelände abgrenzt, das alte und irgendwann zugemachte Loch wieder, jetzt nur als grau verputzter Fleck für mich erkennbar. Das Loch, gerade groß genug für einen Kinderkopf, wo wir auf dem Sonntagnachmittags-Spaziergang selbigen durchgesteckt haben. Zum Spaziergang lädt der Krupp-Weg schon lange nicht mehr ein. Wo damals die Drehscheibe war, steht jetzt das Radiologiezentrum. Aber dann kann ich doch noch etwas entdecken. Weiter in Richtung Umgehungsstraße ist unter wildem Gestrüpp der Aufgang zum ehemaligen Stellwerk zu sehen, das Stellwerk gibt es aber nicht mehr. Ich kann auch nicht erkennen, ob der Ablaufberg noch so wie damals in Gebrauch ist. Aber zwei alte V 60 – Rangierloks, die bekomme ich noch vor die Linse, eine davon im abgewrackten Zustand.

... und Jahrzehnte später auf dem Abstellgleis
... und Jahrzehnte später auf dem Abstellgleis

Meine nächste Station ist meine alte Schule auf der Scheibenstraße. Doch da stehe ich vor modernen Wohnblocks, nichts erinnert mehr daran, dass hier eine Schule stand. Nur der Spielplatz, der in einer Ecke des Schulhofes integriert war, den gibt es noch. Zum Schluss meiner Exkursion fahre ich nach Berg Fidel, zu unserer Sandgrube. Mich interessiert, ob in der Topografie des Stadtviertels noch unsere alte Sandgrube zu erkennen ist. Heute im Kern eine Parkanlage, sind rundherum tatsächlich die Abhänge zu erkennen, die damals beim Ausbaggern der Sandgrube entstanden waren. Und der schmale Hohlweg, den ich auf meiner Kinderzeichnung im Nordosten skizziert hatte, ist heute in der Pankokstraße erkennbar.

Rückblick

Nun sitze ich im Auto und bin auf dem Heimweg nach Burgsteinfurt. Was ist geblieben von meinen Eindrücken und Erinnerungen? Was ist geblieben von dem Viertel, in dem ich die prägendsten Jahre meines Lebens verbrachte, auch wenn es nicht immer die schönsten waren? Mir fällt Hermann Hesse ein, der im Siddhartha über den Fluss des Lebens schreibt. Und nein, das Viertel ist jetzt nach über 40 Jahren nicht mehr mein Viertel. Fremde Menschen wuseln geschäftig herum, und ich stehe als alter Mann dazwischen und sehe Dinge, die sie nicht sehen können. Ich möchte an dieser Stelle das Interesse für Stadtgeschichte nicht als rückwärtsgewandte Nostalgie sehen, sondern als ein Empfinden für den unaufhörlichen Wandel und ein Verständnis für die Lebensumstände der jeweiligen Generationen. Und last not least möchte ich Henning Stoffers Dank sagen, dass er mit dieser Internetseite Stadtgeschichte in einer außergewöhnlich umfangreichen und lebendigen Form zugänglich macht.


Ein Nachwort von Henning Stoffers

Henning um 1955 am Kanal - Foto: Henning Stoffers
Henning um 1955 am Kanal - Foto: Henning Stoffers

Erwin Schröder hat seine Erinnerungen plastisch, detailreich, liebevoll und mit viel Sensibilität aufgeschrieben. An vieles kann ich mich erinnern oder taucht etwas schemenhaft zurück ins Bewusstsein. Sein Bericht spiegelt seine Kindheit in den 1960er Jahren und das Erwachsenwerden eindrucksvoll wider.

 

Als ich ihn wegen der verhältnismäßig großen Länge seine Beitrages frage, ob etwas gekürzt werden könne, war die Antwort, dass das nicht ginge. Eine ungekürzte Veröffentlichung sei ihm wichtig. Und so wurde Erwins Beitrag in zwei Abschnitte geteilt.

 

Für diese Dokumentation danke ich Erwin Schröder sehr herzlich.


Quellen

Text und Idee: Erwin Schröder

Fotos, sofern nicht anders angegeben: Erwin Schröder

Redaktion: Henning Stoffers