Liebe Leserin, lieber Leser,

heute kann man es sich kaum vorstellen, wie vor mehr als 60 Jahren Heranwachsende aufgeklärt wurden. In jener prüden Zeit wurden Homosexualität und Kuppelei bestraft. Ein weiteres Phänomen waren die Massenveranstaltungen des Jesuitenpaters Johannes Leppich.

 

Mein Erleben in den 1950er Jahren habe ich in dieser Geschichte beschrieben.

 

Ihr Henning Stoffers


Über Piranhas, Aufklärung und das Maschinengewehr Gottes - Patres Pereira und Leppich

Henning oben rechts
Henning oben rechts

Jeden Donnerstag besuchte ich morgens den Schulgottesdienst in der Petrikirche. Als Schüler des Paulinums gehörte das zum Schulalltag. An einem dieser Tage wurde uns verkündet, ein Missionar aus Brasilien käme in unsere Klasse. Pater Clemente Pereira würde über seine Arbeit erzählen und uns über die Geheimnisse des Körpers aufklären.

 

Er tingelte in diesen Jahren durch die deutschen Lande, um in Schulen nicht nur von seiner Missionarstätigkeit zu berichten, sondern auch Aufklärungsarbeit zu leisten und für den Priesterberuf zu werben.

Was waren wir Schüler auf diesen Mann gespannt, ihn vor uns zu sehen und seinen Berichten zu lauschen. Vielleicht ähnlich faszinierend wie die Geschichten des Journalisten Heinz Helfgen, der in jenen Jahren mit dem Fahrrad die Welt bereiste. Zwei spannende Bücher hatte ich von ihm gelesen und erinnere mich noch heute daran, wie er die Begegnung mit dem Kaiser von Vietnam erlebte.

Der Amazonas und die Piranhas

Nun stand der von weither gekommene Mann vor uns. Ein - in meinen Augen - älterer, fast weißhaariger Herr, dunkel gekleidet; er hätte Buchhalter oder ähnliches sein können.

 

Der Jesuitenpater erzählte von seiner Missionstätigkeit am Amazonas, einer uns fremden Welt mit vielen exotischen Tieren.

 

Das war wirklich spannend zu hören, wie er auf einem Boot - einem Kanu - diesen mächtigen Fluss befuhr. Denn an den Ufern wohnten die ,Eingeborenen‘, die zum christlichen Glauben zu bekehren waren. Es muss für ihn eine wahre Plackerei gewesen sein.

Er berichtete von den fiesen Piranhas, die, angelockt von einem winzigen Tropfen Blut, einen Mann in Sekundenschnelle bis aufs Skelett abnagen konnten. Wir erschauerten und sahen ihn bewundernd an. Welch ein Mann, der solche Gefahren auf sich nahm. - Die schaurige Schilderung der Gefährlichkeit der Fische war deutlich überzeichnet, aber das wussten wir damals nicht...

Aufklärung Anno 1956

Richtig zur Sache ging es, als wir von ihm ,aufgeklärt‘ wurden. Im Alter von 12-13 Jahren waren wir Schüler in diesen Dingen völlig unbedarft. Das Thema war - auch im Elternhaus - schlicht tabu. Zwar wussten wir aus dem Biologieunterricht, wie eine Biene eine Blüte bestäubt. Aber darüber hinaus - wie das zum Beispiel bei den Tieren oder gar bei den Menschen ist - wurde nicht gesprochen.  Und im Knaurs-Handlexikon vom Vater fand ein suchender, neugieriger Knabe leider auch nichts Weiterführendes.

Links Henning mit Brüdern Thomas und Johannes um 1958
Links Henning mit Brüdern Thomas und Johannes um 1958

Ich saß mit aufgerissenen Augen und verschämt auf meiner Schulbank, als er von den Gefahren sprach, die im Knabenkörper lauern. Man solle bei gewissen Gefühlen, die den jungen Körper hin und wieder heimsuchen, einen Apfel essen oder sich kalt duschen. Aber besonderes Unheil drohe, diesem unseligen Trieb nachzugeben. Körperlicher und geistiger Verfall seien die unausweichliche Folge, wie beispielsweise eine Paralyse - eine Gehirnerweichung. Auch würde die Verschwendung von Samenzellen dem Wachstum schaden, man würde schlimmstensfalls nicht oder nur reduziert weiterwachsen.

 

Gibt es deswegen kleingewachsene Menschen, weil sie den Rat des weisen Paters nicht befolgten oder es dummerweise nicht wussten? Bei einer ,edlen‘ Frau würde im Übrigen keinerlei Wunsch nach einer geschlechtlichen Vereinigung entstehen!

 

Und auch dies gab es damals :
Wenn zum Beispiel ein junges Paar im Hotel übernachten wollte, vergewisserte sich der Hotelier, dass alles seine Richtigkeit hatte, zum Beispiel durch Vorlage der Heiratsurkunde oder entsprechender Ausweise. Eine münstersche Zeitung berichtete hierüber.

Wie ich's heute sehe

Des Paters heute eher unwirklich anmutende, irritierende Botschaft verband Natürliches mit negativen Inhalten. Seine verquaste Ethik war aber damals für uns Schüler eine durchaus ernstzunehmende Sache. Angst, Scham und ein schlechtes Gewissen wurden eingeimpft.

 

Heute glaube ich, dass Pater Clemente von dem, was er verbreitete, überzeugt war. Oder vielleicht doch nicht...?

 

Das Ganze liegt nun mehr als 60 Jahre zurück. Dass ich heute nach so langer Zeit darüber schreibe, ist ein Zeichen dafür, wie sehr mich dieses Erleben berührt hat.

 

In Sachen Aufklärung hat sich - auch seitens der Kirche - vieles positiv entwickelt; und das ist gut so.


Pater Leppich, ein Zeitgenosse Pereiras

Das Maschinengewehr Gottes

Pater Leppich war ein begnadeter Prediger und wurde auch als ,das Maschienengewehr Gottes' oder weniger schmeichelhaft als ,schwarzer Goebbels' bezeichnet. Wenn Pater Leppich in Münster predigte, gab es vorab eine Ankündigung auf einer meterbreiten Tafel, die zwischen zwei Fahnenstangen am Eingang des Hauptbahnhofs aufgehängt war.

Ich erlebte eine seiner Predigten auf dem Domplatz. Wortgewaltig geißelte er die Unsittlichkeit, Bequemlichkeit und die Gottlosigkeit der Menschen. Leppich sprach über das sündhafte Treiben auf St. Pauli. Er sprach von ,religiöser Schwindsucht',  ,verfetteten Kirchgängern' und von ,sexuellen Wildschweinen'. Er provozierte mit wüsten Schimpfkanonaden und ließ ,die Sau raus'. Keine salbungsvollen Worte, sondern eine teils cholerische und aufrütteltende Sprache waren Leppichs Markenzeichen. Äußerlich wirkte er eher unscheinbar und asketisch, verwandelte sich aber in seinen Veranstaltungen in einen erupierenden Vulkan.

 

Die Menschen hingen an seinen Lippen, waren fasziniert und in seinen Bann gezogen. Sie fühlten sich zutiefst angesprochen. Der Unterhaltungswert war nebenbei nicht unerheblich, man ging gern dorthin, zumal auch kein Eintrittsgeld fällig wurde...

Aus meiner Leserschaft informierte mich Otto E. Selle, dass sich das Grab des 1990 verstorbenen Paters Clemente Pereira auf dem Jesuitenfriedhof ,Haus Sentmaring' in Münster liegt, nicht weit entfernt von der Grabstätte von Pater Johannes Leppich.


Zwei Männer, die von ihrem Naturell nicht unterschiedlicher hätten sein können, haben ihre letzte Ruhestätte nicht mehr als 10 Meter entfernt voneinander gefunden.

 

Ein bemerkens- und hörenswerte WDR-Zeitzeichen über Pater Leppich  finden Sie hier. Von der Autorin Martina Meißner gibt auf meiner Homepage weitere Münster-Beiträge.


Quellen

Text, Fotos und Idee: Henning Stoffers

Grafik: Wilfried ,Schrolli' Schroeder