Reichspogromnacht

Münster, 9. November 1938.
In der Stadt herrscht eine angespannte Atmosphäre. Die jüdischen Bürger sehen diesem Tag mit Sorge und Angst entgegen, denn der 9. November hat „eine herausragende Bedeutung“ im nationalsozialistischen Festkalender. Überall im Land versammeln sich SA und SS-Truppen zur alljährlichen „Ehrung der alten Kämpfer“, die beim Hitlerputsch von 1923 ums Leben kamen. Diese Gedenktage werden von den Nazis stets zu antisemitischer Hetze genutzt. Anlass zu weiteren Befürchtungen gibt das zwei Tage zuvor erfolgte Attentat an den deutschen Botschafter in Paris, Ernst vom Rath. Der siebzehnjährige Herschel Grynszpan wollte so auf die Abschiebung von 17.000 polnischen Juden, zu denen auch seine Eltern gehörten, aufmerksam machen. Eine Münsteranerin beschreibt die gedrückte Stimmung so: „Es lag etwas in der Luft, aber keiner konnte sagen, was das war.“


Gegen 20 Uhr treten auf dem Prinzipalmarkt die Formationen der Nationalsozialisten an.
Ein Teilnehmer des SA-Studentensturms in Münster erinnert sich: „Nach der Feier wurde plötzlich gemunkelt: „Dann sehen wir uns in Räuberzivil da und da.“ Da habe ich gedacht: Räuberzivil? Was ist los? Ich habe also den kürzesten Weg zur Kanalstraße genommen und bin in meine Bude gegangen.“


Die Gestapo, die Geheimpolizei, hat inzwischen ein Fernschreiben im ganzen Land verbreitet und ruft darin gezielt zu "Aktionen gegen Juden" auf. Die Reichspogromnacht beginnt. Das
Wort Pogrom kommt aus dem Russischen und bedeutet "Sturm", "Vernichtung".


Nachts marschiert ein Trupp zur Synagoge in die Klosterstraße, ein anderer zum Haus des Rabbiners Dr. Steinthal am Kanonengraben 4. Der Kaufhausbesitzer Fritz Feibes hat sich hierhin geflüchtet, nachdem man sein Schaufenster in der Salzstraße mit antisemitischen Parolen beschmiert hat und er von der immer weiter anwachsenden Menschenmenge bedroht worden ist. Plötzlich leuchten Scheinwerfer vor dem Haus des Rabbiners auf, die Fenster werden zerschossen, die schwere Eichentür wird mit Brecheisen aufgestemmt und eine Menschenmenge stürmt in das Gebäude. Fritz Feibes, von einem Schuss ins Knie getroffen, kann kurz über einen Nebenausgang entkommen, wird aber in der Nähe aufgegriffen und in den Kanonengraben geworfen.  Dr. Steinthal wird zusammengeschlagen und mitgeschleppt. Er soll den SA-Leuten die Wohnungen der Gemeindemitglieder zeigen.
Zur gleichen Zeit dringt ein Trupp in die Synagoge ein, zerschlägt die Möbel, richtet sie zu einem Scheiterhaufen auf und zündet sie an. Das Innere der Synagoge steht in Flammen.
Irgendjemand ruft die Feuerwehr. Doch die Löscharbeiten werden sofort verboten.


Brandmeister Heinrich Doeker berichtet später, dass er gewaltsam zurückgezogen wurde: „Ich selbst wurde von zwei bis drei uniformierten SA-Angehörigen mit Fäusten an Kopf und Nacken geschlagen und fand mich zuletzt in der Straßengosse wieder.“


Am schlimmsten, so der damalige Mathematikprofessor Heinrich Behnke, sei es dem Arzt Dr. Levy ergangen, der beim Aufbrechen seiner Wohnung mit seiner Frau aus dem Fenster auf ein Garagendach gesprungen war. Dort wird er von der SA entdeckt und wird nur mit dem nötigsten bekleidet durch die Salzstraße getrieben, bis er auf dem Prinzipalmarkt blutig zusammenbricht. Kaum eine jüdische Familie entgeht den brutalen Überfällen.


Nur einige wenige werden von Nachbarn oder Freunden versteckt. Wer die Polizei anruft und um Hilfe bittet, erhält folgende Antwort: „Wenn Sie Juden sind, können wir nichts tun.“  Der Kaufmann Paul Wolff schreibt am nächsten Tag: „In Münster hat eine Kolonne von 60 Mann in Privatautos in der Zeit von 1 Uhr nachts bis 4 Uhr alle diese Zerstörungen vollbracht.“
Morgens liegen überall Trümmer und wegen der vielen Scherben wird diese Nacht von den Nationalsozialisten zynisch "Reichskristallnacht" genannt.


Bischof von Galen, der sich in diesen Tagen nicht in Münster aufhält, erkundigt sich besorgt nach dem Befinden des Rabbiners Dr. Steinthal und bietet ihm seine Hilfe an. Die Ereignisse sprechen sich in Windeseile um und schon in den frühen Morgenstunden sind Tausende in Münster auf den Beinen.


Die Lehrer ziehen mit ihren Schulklassen zur ausgebrannten Synagoge und lassen die Kinder singen: „Wenn das Judenblut…“ Erich Kleine, damals Schüler, erinnert sich daran, dass sich die Nachricht verbreitete, dass alle Geschäfte in der Innenstadt zerstört seien: „Von dieser Nachricht wie elektrisiert liefen wir in die Salzstraße und standen plötzlich wie angewurzelt vor dem jüdischen Spielwarengeschäft Feibes…Was mich am meisten betroffen machte, das waren die dicken, feisten SA-Leute mit ihrem höhnischen Gelächter. Sie forderten uns fortwährend auf, Spielsachen mit nach Hause zu nehmen.“


Die Polizei bemüht sich um eine schnelle Beseitigung der Pogromschäden, um wieder ein repräsentatives Stadtbild herzustellen. Bereits am 11. November werden die zerstörten Geschäfte mit Brettern vernagelt. Für die Kosten haben die Geschädigten aufzukommen.
Nach dem "öffentlichen" Novemberpogrom 1938 erhielt die Verfolgung der Juden einen neuen Charakter: Nun begann die "stille" Vernichtung der Juden.


Mit dem letzten Transport, wohl im März 1943, in das Konzentrationslager Theresienstadt, hört die jüdische Gemeinde Münsters auf, zu bestehen. Heute erinnern auch in Münster die so genannten Stolpersteine an die Opfer des NS-Regimes.


In seinen Erinnerungen schreibt Fritz Leopold Steinthal: „Nach einem alten jüdischen Brauch soll man mit Gutem schließen. Dass ich das kann und mein Glaube an den Menschen erhalten geblieben ist, darf als eine göttliche Gnade angesehen werden.“