Liebe Leserin, lieber Leser,

das Thema ,Corona' ist derzeit ein alles beherrschendes Thema. Aus diesem Anlass hat Norbert Nientiedt seine Gedanken, Gefühle und sein Erleben aufgeschrieben. Seine Beiträge, die zum Nachdenken anregen,  veröffentliche ich gern an dieser Stelle.

Zu den 4 Themenbereichen:

Corona 1: Abstand ist Fürsorge

Corona 2: Heilig Kreuz

Corona 3: Die Gier

Corona 4: Coronabegegnung am Lambertibrunnen

 

Ihr Henning Stoffers


Die Gier

CORONA Pandemie Ende März 2020

 

Wie viele meiner Mitbürger/innen bin ich in diesen Tagen auf mich selbst zurückgeworfen. Als Fan von Begegnungen mit Menschen, fällt es mir jetzt leichter, den Begegnungen mit mir selbst nicht länger auszuweichen.

 

Ich erinnere mich gerne an das Wintersemester 1969/70, wo ich in München die große Freude hatte, mit Dieter Hildebrand sprechen zu dürfen. Am Ende unseres wunderbaren Gesprächs, fragte ich ihn danach, was er am meisten von allem kritisieren möchte, was ihm am „Unausstehlichsten“ sei und nicht nur bei den Politikern, die er kabarettistisch anging, nein, was er wirklich hassen würde?

 

Die Antwort kam sofort und ohne nachzudenken oder zu zögern. Er sagte mit all seiner Mimik und Gestik und in einem sehr scharfen Ton: “Die GIER“!

 

Natürlich hat mich diese klare Antwort nicht mehr losgelassen und sie wurde bei meiner Recherche während und nach meinem Studium immer wieder neu bestätigt.

 

Im Duden las ich: „Die Gier ist ein heftiges, maßloses Verlangen, eine ungezügelte Begierde auf Genuss, Befriedigung und Erfüllung von Wünschen nach z.B. Macht, Sex, Geld usw.“ In der Bibel gilt die Gier als eine der 7 „Todsünden“ und wird von vielen Theologen als Ursünde - im Bild von der Versuchung im Paradies - beschrieben. Die Aussagen von Buddha, Konfuzius und Jesus zur Gier, sind sehr vergleichbar.

 

Plötzlich befallen mich selbstkritische Gedanken an mein eigenes, leidenschaftliches, und passioniertes Tun, wenn ich z.B. von einer Sache völlig überzeugt bin; dann beruhige ich mich wieder, als ich bei Joh 10,10 lese, dass Jesus verspricht: “Ich bin gekommen, dass die Menschen das Leben haben und zwar in Fülle.“ Da wird mir klar, dass das kein Quantitätsbegriff ist, sondern ein Qualitätsbegriff. Es geht um Tiefe. Nicht wichtig ist es also, in möglichst kurzer Zeit viel, alles zu haben oder zu erleben, nicht mein Machen und Tun ist gemeint, sondern mein Sein.

 

In den Nachrichten habe ich eben gehört, mit welcher Leidenschaft Ärzte und Krankenschwestern um das Leben der Infizierten kämpfen, wie Menschen im Rettungsdienst aber auch an Supermarktkassen und Paketdiensten, an ihre Grenzen gehen, während viele andere sich gerade von 100% auf fast 0% ausgebremst erfahren. Worte, die verschwunden schienen, erleben in dieser Zeit eine Renaissance wie z.B. Bescheidenheit, Mitmenschlichkeit und sogar Demut.

 

Die Gier wie Dieter Hildebrand sie meinte, hat in diesen Tagen keine Konjunktur, sie kommt mir wie ein wildes Tier (vgl. Wilfried Schmickler in seinem Lied über die Gier) vor, das im Käfig darauf lauert, auszubrechen. Bekannte Vertreter der Gier in der großen Politik, die noch vor ein paar Tagen die Pandemie geleugnet haben und menschenverachtend forderten, diese als „Minigrippe“ nicht ernst zu nehmen, sind plötzlich selbst infiziert. Ein kleiner Wermutstropfen ist jedoch nicht zu übersehen. Die Gier ist auch in „Coronazeiten“ nicht gänzlich verschwunden. Das Hamstern nach Toilettenpapier nimmt schon skurrile Formen an.

 

Ich recherchiere noch einmal im Netz nach Texten von Dieter Hildebrand und stoße auf folgende Empfehlung:

„Statt zu klagen,

dass wir nicht alles haben,

was wir wollen,

sollten wir lieber

dankbar sein,

dass wir

nicht alles bekommen,

was wir verdienen.“

 

Da erschrecke ich mich: “Bekommen wir mit der Pandemie vielleicht das, was wir verdienen?“ Ich schiebe diesen Gedanken dann doch schnell wieder beiseite.

 

Bei einer starken Tasse Kaffee reflektiere ich jetzt noch einmal alle Gedanken zur Gier, die mir bei meiner heutigen Begegnung mit mir selbst, gekommen sind.

 

Ich gönne mir Zeit und erinnere mich dann an ein Gedicht von Eva Zeller, das ich in einem Schulgottesdienst nach der Kommunion gelesen hatte und häufig nachgefragt wurde:

„Was ich noch sagen wollte

Wenn ich Dir

einen Tipp geben darf

Ich meine

Ich bitte Dich

um alles in der Welt

und wider besseres Wissen:

Zieh den Kürzeren

Lass Dir etwas

entgehen“

 

(aus: Eva Zeller, Dies Sage und Schreibe 1971 Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart)