Liebe Leserin, lieber Leser,

das Thema ,Corona' ist derzeit ein alles beherrschendes Thema. Aus diesem Anlass hat Norbert Nientiedt seine Gedanken, Gefühle und sein Erleben aufgeschrieben. Seine Beiträge, die zum Nachdenken anregen,  veröffentliche ich gern an dieser Stelle.

Zu den 4 Themenbereichen:

Corona 1: Abstand ist Fürsorge

Corona 2: Heilig Kreuz

Corona 3: Die Gier

Corona 4: Coronabegegnung am Lambertibrunnen

 

Ihr Henning Stoffers


„Coronabegegnung“ am Lambertibrunnen

Am Sonntag, dem 29.3.2020, war es gefühlt 10 Grad kälter, als noch am sonnigen Samstag zuvor. Graupel und Regen komplettierten den Eindruck, dass es kälter werden wird. Das ist doch nur äußerlich, dachte ich noch, bevor ich die Nachrichten hörte. Von zu erwartenden sozialen Verwerfungen, ja Zunahme von häuslicher Gewalt war da die Rede. Der an diesem Morgen bekanntgewordene Suizid des hessischen Finanzministers, wurde mit nicht zu erfüllenden Erwartungen der Bürger an den Staat, mit dem Zusammenbruch großer Firmen und der daraus resultierender sozialer Not, verbunden. Diese Nachrichten passen zur Kälte da draußen, dachte ich noch, bevor ich von tollen Beispielen sozialer Wärme erfuhr.

 

Bürgerinnen unserer Stadt nähen Gesichtsmasken. Für ältere Mitbürger werden von Jugendlichen Bringdienste organisiert und die Blutspenden nehmen auch wieder zu. Mit diesem Mix an „Input“ begebe ich mich auf die „Leeze“ und werde auch sofort von der Kälte und vom Graupel erwischt. Heute wird der Ausflug nicht so arg lang werden, dachte ich noch, als ich am Theater den ersten Menschen erblicke. Eine durchaus elegant wirkende, ca. 50jährige Frau, in einem orangefarbenen Mantel. Sie hantiert mit Getränkedosen, die dort verstreut liegen. Alle Achtung, denke ich noch, vor so viel Umweltbewusstsein, als ich schon fast an ihr vorbei bin und noch so eben sehen kann, dass sie einen rotbepunkteten Nylonbeutel aus ihrer Tasche zieht und die Dosen dort hinein befördert. Ich fahre jetzt so langsam, dass ich sehen kann, wie sie in einem Mülleimer nach weiterem Pfandgut sucht. Das war dann wohl zu langsam, denn jetzt schaut sie mich direkt an und ich empfinde tiefe Scham. Es tut mir wirklich

 

leid, sie, die so gar nicht nach einem Menschen in Not aussieht, beim Sammeln von Pfandgut, beobachtet zu haben. Jetzt erhöhe ich mein Tempo und bin sehr schnell auf dem Prinzipalmarkt. Ohne wirklich ein Ziel zu haben, steuere ich den Schlossplatz an; mein schlechtes Gewissen drückt immer noch. Kurz vor dem „Juridikum“ habe ich eine Idee. Ich radle zurück und sichere meine Leeze vor dem Kirchenfoyer; dann gehe ich in die Lambertikirche, wo ich für die Frau eine Kerze anstecken werde. Es sind in diesem Augenblick nur 5 Menschen in der großen Kirche ….....aber die Frau mit dem orangefarbenen Mantel ist eine davon. Sie zündet gerade eine Kerze an. Ich bin total aufgewühlt. Nach einigen Minuten mache ich dann das, was ich mir vorgenommen habe; ich halte großen Abstand aber sie hat mich natürlich erkannt. In meiner Verlegenheit habe ich, nachdem ich in meiner Tasche einen Gummiring gefunden habe, erneut eine Idee. Als die Dame die Kirche verlässt, nehme ich ein Lesezeichen (ich habe immer einige davon in meiner Westentasche) und befestige mit dem Gummiring einen Geldschein auf der Rückseite, dann folge ich ihr.

 

Auf dem Kirchplatz spreche ich die Frau an, wobei ich einen Abstand von fast 3 Metern einhalte:“ Ich wünsche ihnen einen schönen Sonntag und möchte sie bitten, das Lesezeichen von meinem Buch „Bleibe standhaft,“ das genau die gleiche Farbe wie ihr Mantel hat, anzunehmen. Ich werde es wegen der Coronaregeln auf den Brunnenrand legen.“ Unsere Blicke begegnen sich nun zum dritten Mal, wobei mir jetzt erheblich wohler, als vorhin, ist. Sie schaut mich an, als ob sie etwas sagen möchte, was sie dann aber unterlässt. Ich lege das Lesezeichen auf den Brunnenrand und auf dem Weg zu meiner „Leeze“ sage ich noch:“ Mit dem Titel des Buches verbinde ich alles, was ich ihnen von Herzen wünsche und übrigens brennt meine Kerze (ich wende meinen Kopf und meinen Blick zur Lambertikirche) für sie.“ Bewusst drehe ich mich jetzt schnell um und bücke mich ein wenig, um das schwere Kettenschloss an meiner „Leeze“ zu öffnen; dabei kann ich mit einem Schulterblick noch sehen wie die Dame, mit dem orangefarbenen Mantel, das Lesezeichen aufhebt. Ich fahre bewusst nicht mehr an ihr vorbei, sondern in Richtung Stadtbücherei, um die Coronaregeln einzuhalten aber auch deswegen, weil ich eine weitere Begegnung vermeiden möchte. Die Kälte, die ja nur äußerlich ist, den Regen und den Graupel, habe ich dann bis zuhause kaum noch gespürt.